Die Emanzipation von der heiligen Wand
Heiko Zahlmann war Graffiti-Sprayer und das Leben „vor der Wand“ sein Metier. Heute begeistern vor allem seine überlebensgroßen 3-D-Skulpturen, die überall auf der Welt zu finden sind. In Hotels, Unternehmen und immer häufiger auch bei Privatleuten. Viele seiner Ideen entstehen heute in enger Zusammenarbeit mit Architekten und auch vor Badezimmern macht Zahlmann nicht halt. Erläuterungen von einem Künstler, dessen größte Freiheit es heute ist, nicht mehr auf eine Wand angewiesen zu sein.
„Der Zufall hat natürlich auch in meinem Leben immer eine große Rolle gespielt. Als Teenager lebte in meiner Hamburger Nachbarschaft ein Sprayer, dessen Arbeit eine seltsame Faszination auf mich ausgeübt hat. So landete ich in einer Szene, die zu einer ganz eigenen Welt wurde. Wir waren Skater, Sprayer oder beides und trafen uns am Jungfernstieg oder Gänsemarkt. In einem Baumarkt am Hauptbahnhof kauften wir unsere Farbdosen und dann sprayten wir drauf los. So fing sie an, meine Leidenschaft für Kunst im öffentlichen Raum. Nur nannte das damals niemand so. Und wir schon gar nicht. Regeln, Recht, Gesetze, darüber dachten wir nicht nach. Wir wollten uns ausleben, unsere eigene Vorstellung von Ästhetik in der Stadt sichtbar machen und dabei selbst nicht übersehen werden. Uns faszinierte und inspirierte die Graffiti-Kunst der Siebziger und Achtziger Jahre aus New York und Philadelphia.
Ich sprayte Landschaften, aber auch immer wieder Buchstaben, die im Laufe meiner Karriere noch eine wichtige Rolle spielen sollten. Als meine Freunde dann Ausbildungen machten oder zur Uni gingen, wagte ich bereits den Schritt in die Selbständigkeit. Als Autodidakt, aber mit der Überzeugung, auch wirtschaftlichen Erfolg haben zu können. Mit Anfang 20 hatte ich erste Aufträge und konnte auch davon leben. Meine Strategie war einfach: Wenn ich irgendwo eine besonders große, attraktive Wand sah, schrieb ich mir die Adresse auf, recherchierte den Eigentümer und rief ihn an. Nach wenigen Jahren kehrte sich das Spiel um, die Auftraggeber meldeten sich bei mir und ich hatte so viel Arbeit, dass ich etliche Kollegen mit ins Boot holen konnte.
Was folgte waren die ersten Ausstellungen in Galerien und Museen. Das hatte zwar nichts mehr mit Auftragsarbeiten zu tun, aber das passte mir ganz gut. Langsam aber sicher wollte ich mich ohnehin verändern, um nicht irgendwann als Sprayer-Opa belächelt zu werden. Ich wollte mich weiterentwickeln. Und da gehört der Wandel einfach dazu. Das Thema Schrift faszinierte mich, Typografie. Und so wurden zunächst Buchstaben die Basis meiner Arbeit. Mit der Zeit löste ich dann die Buchstaben immer weiter auf, bis nur noch Fragmente übrig blieben, aus denen ich eine eigene – meine eigene – Sprache und Form entwickelte.
Ich tauchte ab und ein in die künstlerische Welt der Lettern. Dabei stellte ich fest, dass sich auch schon vor fast 100 Jahren Menschen mit der Dekonstruktion von Buchstaben beschäftigt und diese Werke als Elemente von Architektur verwendet haben. Das hat mich in meinem Vorhaben nur noch bestätigt.
Je mehr ich ins Haptische eintauchte, desto weiter entfernte ich mich von der Sprayer-Szene. Das sorgte zwar für mehr Irritation als Zustimmung, aber mir war schnell klar, dass es keinen Weg zurück gab.
Um die Jahrtausendwende habe ich dann mit zwei Kollegen die Ausstellungsreihe “urban discipline” auf die Beine gestellt, in drei aufeinanderfolgenden Jahren. Bis heute gilt sie als eine der wichtigsten Ausstellungen für Graffiti und Streetart. Zum Beispiel kam ein damals noch recht unbekannter Künstler namens Banksy aus London nach Hamburg und schuf hier einige Werke, die für ein paar Hundert Euro den Besitzer wechselten.
Meine Graffiti-Zeit aber ging dem Ende entgegen, das spürte ich deutlich und der damalige Trend zu 3-D-Darstellungen bei Sprayern löste in mir die Frage aus, warum ich Räumlichkeit nur als Illusion schaffen sollte, nicht aber in Wirklichkeit. Dieser Gedanke sollte die nächste Wende in meiner künstlerischen Biografie einläuten.
Ich hatte den Anspruch an mich selbst, Höchstleistung zu erbringen. Und das in einem bestimmten Segment der Kunst. Ich wusste nur noch nicht in welchem. War meine Kunst bislang immer auf die Wand angewiesen, weil ich darauf nun mal gemalt hatte, merkte ich jetzt, wie sich meine Arbeiten mehr und mehr von der Wand emanzipierten und frei im Raum stehen sollten. Eine Ausstellung auf Kampnagel bot mir schließlich eine unerwartete Chance und ich konzipierte eine vier Meter hohe und siebeneinhalb Meter lange 3-D-Form aus Styrodur. Zusammen mit zwei Mitarbeitern entstand in wochenlanger Arbeit der erste Prototyp dessen, was heute den Inhalt meines Schaffens ausmacht. Meine Kunst hatte sich endgültig von der Wand gelöst.
Und meine Arbeit blieb nicht unbemerkt. Wenig später arbeitete ich bereits mit dem Büro von Rem Kohlhaas am Entwurf der Katar Foundation in Doha. Dort steht nun ein 25 Meter langes Relief aus Beton von mir. Ein anderes steht im Hotel Atlantik. Wieder andere in vielen privaten Gebäuden.
Heute passiert es oft, dass ich mit Architekten gemeinsam an einem Projekt arbeite. Die Kollaboration begann in der Tat mit einem Badezimmer, für das ich eine Wandmalerei gestaltete. Es wurde dabei sehr schnell klar, dass Architektur und meine Kunst gut zusammenpassen und sich Bauplanungen und meine Ideen für eine kreative Gestaltung eines oder gleich mehrerer Räume idealerweise ergänzen.
In einem Hamburger Familienunternehmen hängt jetzt zum Beispiel eine transparente, mehrere Meter breite und hohe Skulptur, die gleich zwei Stockwerke verbindet. Geradezu riesig. Warum? Warum genau so? Warum so groß? Ich erlaube mir einfach, Sachen zu machen, die für manche Betrachter keinen Sinn ergeben, für andere aber umso mehr. Das macht meine Kunst mitunter schwer und sperrig. Sie wehrt sich gegen statische Gesetzmäßigkeiten, ist oft Luxus und muss sich für meine Sammler auch nicht rechnen, zumindest nicht finanziell. Ein Bauunternehmer im Saarland zum Beispiel hat mich vor drei Jahren gebeten, eine riesige freistehende Stahlskulptur zu entwerfen. Die haben wir dann auch realisiert, aber dabei ging es nicht um Produktionskosten. Es geht einzig darum, auf derselben Wellenlänge zu sein. Er hatte übrigens lange recherchiert und sich viele Gedanken darüber gemacht, welcher Künstler in Frage kommen könnte. Dass die Wahl dann auf mich gefallen ist, betrachte ich als großes Kompliment.“
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