Auf Biegen und Brechen Die Kunst von Edoardo Tresoldi
Autor: Dave Großmann, Künstler und Redakteur an den Schnittstellen von Design, Kunst und Architektur
Mit maßstabsgetreuen Drahtskulpturen erweckt der Künstler Edoardo Tresoldi klassische Architektur wieder zum Leben.
Beim Thema Wiederaufbau gibt es zwangsläufig Streit. Als prominente Beispiele sorgten das Berliner Schloss, der Potsdamer Landtag oder die Dresdener Frauenkirche für heftige Diskussionen. Dreh- und Angelpunkt ist die immer gleiche Frage: Rekonstruktion des Originals oder ein moderner Ansatz? Manche sehen sich verpflichtet, bestimmte Kulturschätze um jeden Preis wiederzubeleben. Andere meinen, verloren gegangene Architektur besser ruhen zu lassen. Wie kann es zeitgemäß sein, etwas Vergangenes wieder aufzubauen?
Für den italienischen Künstler Edoardo Tresoldi gibt es hier keinen Konflikt. Alt und Neu sind für ihn kein Widerspruch, sondern künstlerisches Prinzip. Mit seinen Installationen lässt er verschwundene Baustile wiederauferstehen. Das Ergebnis kann man irgendwo zwischen Skulptur, Architektur und Geschichtsvermittlung verorten. Doch statt massivem Stein oder Beton begegnet man transparenten Drahtgittermodellen, wie aus einem 3D-Rendering Programm. Der Clou dabei: es sind tatsächlich Drahtgitter. Tresoldis Mittel sind so einfach wie wirkungsvoll – filigrane Metallgitter, verbogen und zusammengefügt zu haushohen Volumen. Doch welche Absicht steckt dahinter? Werden hier Luftschlösser gebaut?
Es ist viel mehr als das. Tresoldi selbst beschreibt seine Kunst als Abwesenheit von Materie. Was längst nicht heißt, dass es ihr an Substanz fehlt. Im Jahr 2013 entdeckte der noch junge Künstler das Drahtgeflecht für sich und schuf damit zunächst menschliche Figuren und Tiere. Wie dreidimensionale Zeichnungen setzte er diese auf ausgewählte Häuser im öffentlichen Raum. Noch war der Ansatz illustrativ und eher der Street Art zuzuordnen. Jedoch entwickelte sich diese Idee sprunghaft, als Gebäude nicht mehr nur als Sockel herhielten – sondern als Motiv selbst in Frage kamen. Im Fokus stehen dabei Bauten aus der Klassik und dem Barock. Tresoldi zieht blank: Mit der Verkleidung entfernt er den Gebäuden auch jede Zweckmäßigkeit. Es mag paradox klingen, aber die Drahtskelette zeigen die Poesie hinter der Fassade. Die Rekonstruktionen zelebrieren die ausladende Formensprache der klassischen Architektur. Es geht um Faszination statt Funktion. Runde Kuppeln, Ornamente und Säulen mit Kapitellen stehen in starkem Kontrast zu den starren Drahtgittern. Organisch in der Gesamtheit – linear im Detail. Neben aller Architekturgeschichte wird ebenso das Handwerk sichtbar. Anfangs holte der Künstler sich selbst noch blutige Finger vom Biegen und Brechen unzähliger Gitter. Mittlerweile umgibt ihn ein großes Team, mit dem völlig neue Dimensionen möglich sind. Trotzdem lässt sich das Material nicht einfach maschinell verformen. Es bleibt ein Kraftakt.
Tresoldis Installationen wirken sehr abwechslungsreich. Noch aus der Ferne erscheinen sie wie eine Fata Morgana, geisterhaft. Unweigerlich muss man näher herantreten. Plötzlich erinnern sie an drahtige Modellbauten, an unvollständige Kulissen eines Filmsets. Gleichzeitig sind sie bereits aufgrund der Größe beeindruckend. Ebenso auffällig ist der konsequente Verzicht auf Farbe. Das Material bleibt pur. Ein wichtiges Element dagegen ist die dramatische Beleuchtung. Die Wirkung wechselt nicht nur dynamisch zwischen nah und fern, sondern auch von Tag zu Nacht. Es scheint, als befinden sich die Objekte in einem eigenen Aggregatzustand – ähnlich wie Schaum, schwer einzuordnen. Auch nach mehrmaligem Umrunden bleiben die Installationen mysteriös. Wie eine dünne Membran verschwimmen sie mit ihrer Umgebung. Im Inneren dagegen empfindet man die Bauwerke weniger poetisch – eher beklemmend, wie in einem Käfig. In den meisten Fällen wäre diese Zuschreibung negativ zu lesen. Allerdings erweist sich das Störende in diesem Fall überraschend förderlich. Die Werke entkommen somit haarscharf dem Kitsch, der gefälligen Kunst, die einfach schöne Bauten nachbildet. Solche widersprüchlichen Momente erzeugen Reibung und verwirren Tresoldis Publikum.
Mittlerweile irritieren die schleierhaften Erscheinungen überall – in alten Ruinenstätten oder auf den größten Musikfestivals der Welt. Architekturgeschichte wird lebendig vermittelt, denn die Arbeiten sind Kunstwerk, Sehenswürdigkeit und Ansichtsmodell zugleich. Der Künstler öffnet damit ein völlig neues Genre. Aufklärend und ästhetisch – eine seltene Kombination in der zeitgenössischen Kunst. Historikern und Architekten könnte es durchaus in den Fingern jucken. Denn theoretisch ist dieses Spielfeld beliebig erweiterbar – egal ob es sich um andere vergessene Ruinen und Baustile, nie Umgesetztes, in Planung befindliche Bauten oder reine Fantasie handelt. Sämtliche Gegensätze werden vereint: Volumen und Leere, Masse und Leichtigkeit, Hartes und Weiches. Was andere in ewigen Konflikten versuchen zu lösen, schafft Edoardo Tresoldi durch Biegen und Brechen von Gittern: Eine moderne Rekonstruktion der Geschichte.
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