Esther Stocker Eine Frage des Standpunkts
Die Künstlerin Esther Stocker fordert unsere Augen heraus und hebt die Gesetze von Raum und Ordnung auf.
Autor: Dave Großmann, Künstler und Redakteur an den Schnittstellen von Design, Kunst und Architektur
In einem Punkt sind sich Wissenschaftler und Philosophen einig: Jeder Mensch nimmt die Welt auf seine eigene Weise wahr. Was ich als »wahr« empfinde, kann von dir völlig anders aufgefasst werden. Sehe ich auf dem Boden die Ziffer Sechs stehen, liest mein Gegenüber eine Neun — und beide haben recht. Solche Beispiele kennen wir zur Genüge aus Wahrnehmungsspielen oder Rechtsstreits. Oft enden sie in einem Dilemma. Doch sobald wir uns auf eine gemeinsame Perspektive einigen können, bilden diese Konflikte den Ausgangspunkt für unsere Werte, unser Rechtssystem, und weitergedacht für unsere gesamte Kultur und Zivilisation.
Viele Berufsgruppen sind bemüht, Klarheit zwischen all den verschiedenen Perspektiven zu finden. Dazu zählen nicht nur Psychologinnen, Rechtsschaffende und Politiker, sondern auch Gestalter. Vom Design bis hin zur Architektur: Diese Felder versuchen herauszufinden, wie wir die Welt wahrnehmen, was uns anspricht, wie sie unsere Wahrnehmung prägen und in bestimmte Richtungen lenken können. So konnten wir uns kollektiv und stillschweigend darauf einigen, dass man kaltes Wasser am besten mit Blau — und warmes Wasser mit Rot markiert. Kaum jemand käme noch auf die Idee, diese Farben gegen Grün und Lila zu tauschen. Die einzige Gruppe die es wagt sich solchen Normen zu widersetzen, ist die der Künstlerinnen und Künstler. Die Kunst hinterfragt unsere Wahrnehmung der Dinge permanent, fordert sie heraus und spielt mit ihr.
Esther Stocker beherrscht dieses Spiel nahezu perfekt. Die in Wien lebende Künstlerin schafft Rauminstallationen, die das Auge herausfordern. Betrachtet man ihre Arbeiten, steht man nicht davor, sondern mitten im Bild, innerhalb der Linien eines schwarz-weißen Rasters. Die Grenze zwischen Raum und Bild — wie aufgehoben. Ihre Werke laden zur Bewegung ein, wie fremdgesteuert bückt man sich, man neigt den Kopf, tritt von einer Stelle auf die andere. Mit jedem noch so kleinen Perspektivwechsel entstehen immer wieder neue Kompositionen und Überlagerungen. Doch nicht nur das Bild verliert seinen Rahmen, wenn es vom Boden bis zur Decke und in den Innenraum dazwischen wächst. Auch der Ausstellungsraum selbst löst sich optisch auf: Ähnlich wie bei einer Hohlkehle verschwinden die sonst klaren Kanten die ihn begrenzen — der Raum wirkt nahezu unendlich und der Blick verliert sich.
Damit fängt das Spiel erst an. Wenn der Blick unendlich scheint, spielen Dimensionen keine große Rolle mehr. Obwohl die Werke der Künstlerin meist räumlich sind, versteht sie sich selbst als Malerin. Bereits in der Planungsphase ignoriert Stocker den Raum in seiner Tiefe und behandelt ihn eher wie eine Bildfläche. Dabei beschränkt sie sich stets auf den größtmöglichen Kontrast: Schwarz und Weiß. Ihre minimalistische Formensprache schafft es, die Grenzen zwischen den Dingen — die sonst sehr klar voneinander getrennt sind — aufzuheben. Die Wände wirken merkwürdig räumlich, andererseits verliert der Raum stellenweise an Tiefe. Der Übergang vom Zwei- ins Dreidimensionale verschwimmt und kann spontan in die eine oder andere Richtung kippen. Dieser Wechsel irritiert und wirft interessante Fragen auf. Denn gewöhnlich ist eine Linie — gezeichnet auf Papier — eindimensional. Doch was passiert, wenn unsere Linie nicht an der Grenze des Blatt Papiers endet, sondern sich darüber hinaus, vom Tisch zum Boden, entlang der Wände bewegt? Sie befindet sich nun im dreidimensionalen Raum. Oder immer noch auf einer zweidimensionalen Fläche? Die Antwort ist: beides. Den Übergang von einer Dimension in die andere begreift man als immanente Grenze. Nicht »entweder – oder«, sondern »sowohl als auch«.
Genau das macht Esther Stockers Räume so besonders. Sie stellen unsere Wahrnehmung auf einen äußerst schmalen Grat zwischen den Möglichkeiten: Wo beginnt der Raum, wo hört er auf? Sehe ich Tiefe, oder doch nur eine Fläche? Und letztlich: Nehme ich das Ganze als geordnet oder chaotisch war? Wo für unsere Wahrnehmung sonst eine deutliche Grenzschranke steht, lässt uns Stocker nur noch einen dünnen Faden. Ihre Strukturen wirken paradox. Statt Halt und Orientierung zu bieten, irritiert das Raster und manipuliert den Raum. Stocker meint: »Das Raster oder die Ordnung brauche ich, um überhaupt erst eine Abweichung davon beschreiben zu können.« Zwar spielen die Installationen hauptsächlich mit unserer Wahrnehmung, weitergedacht jedoch mit unserem Verstand — oder besser: Unserem Verständnis von Ordnung. Wenn System und Chaos so nah beieinander liegen, stellt sich die Frage, was davon überwiegt. Gewöhnlich nehmen wir die Welt um uns herum in ihrer alltäglichen Ordnung wahr. Bereits kleine Veränderungen jedoch können unsere Strukturen ins Wanken bringen. Schnee in der Sahara, Turbulenzen an der Börse — nur eine kurze Störung in der großen Ordnung? Die Chaostheorie behauptet, es könnte auch genau umgekehrt sein. Vielleicht befinden wir uns auf kleinen Inseln der Ordnung, inmitten eines großen chaotischen Ozeans. Die Installationen von Esther Stocker zeigen uns eindrucksvoll: Alles eine Frage des Standpunkts.
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