Hendrik Czakainski Aus der Distanz
In fotorealistischen Modellbauten setzt sich der Künstler Hendrik Czakainski mit der organisch wachsenden Architektur von Slums auseinander.
Ein Gastbeitrag von Dave Grossmann.
Zerfallenes zieht an. Auch wenn der Mensch ein ordnungsliebendes Wesen ist, pflegt er eine befremdliche Begeisterung für verlassene, im Verfall begriffene Orte. Gemeint sind nicht etwa alte Burgruinen, viel eher wecken Relikte aus der jüngeren Geschichte die Neugier von Abenteurern und Hobbyfotografen. Die Spurensuche zieht sich von den Heilstätten in Beelitz über die Brachen von Detroit bis nach Tschernobyl. »Lost« sind diese Gegenden dabei schon längst nicht mehr – aus dem Reiz des Verbotenen ist ein weltweiter Tourismuszweig gewachsen. Die brachiale Ästhetik des Zerfalls wurde kultiviert und findet seine Anhänger mittlerweile in sämtlichen Bereichen der Gestaltung.
Auch Hendrik Czakainski haben es die morbiden Strukturen angetan. Auf den ersten Blick meinen viele Betrachter seiner Arbeiten, eine großformatige Fotografie zu sehen. Umso größer ist die Überraschung, wenn sie nah an das Bild herantreten: Kein Print, sondern ein mühevoll zusammengesetztes Relief. Der Berliner Künstler geht einen Schritt weiter und baut fotorealistische Modelle urbaner Räume, im Speziellen von improvisierten Strukturen wie Slums und industriellen Landschaften.
Sein Weg dorthin führte ihn über die klassische Architekturzeichnung. Schon lange beschäftigte ihn die außergewöhnliche Ästhetik zerstörter Brücken und Gebäude. Es ist die Abweichung von der Norm geradliniger Kuben, die sein geschultes Auge herausfordert – sieben Jahre lehrte er Architekturzeichnen an einer Berliner Hochschule. Eine völlig neue Perspektive auf Stadt und Architektur öffnete sich ihm Anfang der 2000er Jahre, als Google umfangreiche Satellitenbilder zugänglich machte. Auf seinen Reisen durch Indien oder Nepal boten die Luftaufnahmen zunächst Orientierung – vor allem in kaum verzeichneten Gegenden, wie den Slums von Kathmandu. Doch schon bald inspirierten ihn die Karten dazu, die Vogelperspektive auch in seinen Zeichnungen aufzugreifen. Räumlichkeit spielt hier keine Rolle mehr. Sichtbar werden nun die topographischen Oberflächen, die sich am besten mit realen Untergründen darstellen lassen. Der Künstler begann, mit verschiedenen Rohstoffen zu experimentieren. Haptik ersetzte den Bleistift – die Zeichnung wuchs über sich hinaus.
Mittlerweile gleicht seine Arbeitsweise einer wahren Materialschlacht. In mehreren Ebenen kombiniert er MDF, Karton, Gaze und Wellpappe mit Spachtelmasse, Farben und Pigmenten. Somit erreicht er eine realistische Detailtreue, die essentiell für seine großformatigen Arbeiten ist. Immer noch ausgehend von unzähligen Skizzen, wachsen die Modelle aus dem Detail heraus. In geduldiger Kleinarbeit konstruiert er tausende Variationen von Häusern und Hütten, Schiffswracks und urbanen Partikeln. Der Wechsel des Arbeitsplatzes vom Tisch zur großflächigen Wand bedeutet gleichzeitig den Übergang vom Mikro- zum Makrokosmos. Hier erhält das Bild durch Farben und Texturen seinen finalen Look.
Doch bei aller Liebe zum Detail entstehen am Ende keine einladenden Orte. Modellbauten suggerieren in der Regel eine kitschig-perfekte Welt — Czakainskis Schauplätze dagegen sind düster, mitunter apokalyptisch und vermitteln stets eine raue Atmosphäre. Nicht nur die verwitterten Oberflächen erzeugen diese schwere Stimmung, auch die Formensprache an sich wirkt beklemmend. Die Siedlungen sind dicht und von Zerstörung geprägt. Urbane Enge am Maximum. Durchgängig sind auch die gewählten Bildausschnitte: Die Motive wachsen stets über den Rahmen hinaus und weisen auf die unvorstellbaren Dimensionen der Slums hin. Der Künstler betont jedoch, die Werke seien keine Abbildung realer Orte. Viel eher sind sie an ein bestimmtes Repertoire aus Formen und Material angelehnt, mit dem sich Millionen von Menschen zu helfen wissen. Eine Architektur der Improvisation.
Auch wenn die Modelle keine exakte Nachbildung sind, spiegeln sie reale und prekäre Zustände eindringlich wider. Die organisch gewachsenen Strukturen von Slums stehen für Improvisation und dynamische Prozesse, zu denen jeder Einzelne beiträgt. Somit entsteht eine kollektive Architektur, die sich jeder Planung entzieht: Freie Flächen werden ausgereizt und mit dem besetzt, was vorhanden ist. Notwendigkeit ist das Gebot – Überfüllung die Konsequenz. Slums sind das dramatische Ergebnis der hoffnungsvollen Flucht in den urbanen Raum.
Unweigerlich betrachtet man Czakainskis Bilder mit gemischten Gefühlen. Zum einen vermitteln sie uns einen Eindruck von den katastrophalen Folgen der Urbanisierung für Mensch und Umwelt. Auf der anderen Seite erkennt man eine verstörende Schönheit – hervorgerufen durch den distanzierten Blick von oben, auf ein unbewusst geschaffenes, kollektives Ganzes. Bleibt es Improvisation oder beginnt hier bereits Architektur? Bewusst öffnet Czakainski diese Spannungsfelder, ohne dabei konkret zu werden. Es ist die Kraft der Kunst, Fragen zu stellen, auf die wir selber eine Antwort finden müssen.
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