Jeongmoon Choi Am Rand der Wirklichkeit
Autor: Dave Großmann, Künstler und Redakteur an den Schnittstellen von Design, Kunst und Architektur
Nichts lässt uns leichter an der Realität zweifeln, als ein fremdartiges Licht. Seltsame Lichtphänomene kennen wir vom nächtlichen Himmel, doch auch menschgemachte Sensationen können das Auge in die Irre führen. In der Filmhistorie erzählte man sich gerne die Legende, das Publikum habe panisch seine erste Filmvorführung verlassen, weil es tatsächlich glaubte, von einem einfahrenden Zug überrollt zu werden. Eine aufgebauschte Geschichte, so weiß man heute. Was jedoch zutraf, war die Angst vor der realistisch wirkenden Illusion. Auch weit über 100 Jahre später hat unsere Faszination für Licht und seine Wirkung in keiner Weise nachgelassen.
Die Installationen von Jeongmoon Choi sind der beste Beweis. Beim Betreten ihrer Räume überkommt einen das Gefühl, man stehe in einer eingefrorenen Clubsituation. Denn verglichen mit typischen Lasershows, sind die Arbeiten der Künstlerin statisch und kommen ohne spektakuläre Effekte aus. Ganz im Gegenteil. Unser Auge, gewohnt an Reizüberflutungen, macht hier eine ganz neue Erfahrung. Die Installationen sind zwar unbewegt, aber dennoch dynamisch; sie wirken grazil und nehmen gleichzeitig Raum ein. Der Drang ins Licht zu greifen ist groß und bringt den entscheidenden Aha-Moment: Keine digitale Projektion, sondern von Hand gezogene Fäden!
Jeongmoon Choi zeichnet in den Raum und hinterlässt ambivalente Bilder. Denn trotz ihrer virtuellen Erscheinung sind diese rein handwerklich ausgeführt. Chois Mittel sind simpel: Mit Schwarzlicht und fluoreszierendem Strick in unterschiedlicher Stärke webt sie leuchtende Netze, in denen sich der Blick verfängt. Schon immer wollte sie, dass man sich durch ihre Zeichnungen bewegen kann und experimentierte mit aufgespannten Fäden. Um diese besser wahrnehmen zu können, musste sie den Raum abdunkeln und mit Schwarzlicht isoliert beleuchten. Das Licht als elementares Gestaltungsmittel in der Architektur, knipst die Künstlerin einfach aus. Der Raum tritt zurück und was bleibt, sind magisch glühende Fäden.
Auf diese Weise ermöglicht uns Choi ein neues Raumgefühl. Startpunkt ihrer Planung ist dabei immer der Raum selbst, den sie auf sich wirken lässt, seine Distanzen abschätzt und mit dem Faden in der Hand entdeckt. Der Dialog mit der umgebenden Architektur ist für ihre Arbeit essentiell. Dachte sie anfangs noch, der White Cube oder eine Black Box sei einfacher zu bespielen, stellte sich schnell heraus, wie wesentlich jeder Raum mit seinen Eigenheiten das Ergebnis formt. Vor allem im Museum muss sie sich nach den örtlichen Besonderheiten richten und etwa auf Abstände zur Barrierefreiheit achten. In diesen Momenten sieht sie in ihrer Aufgabe viele Parallelen zu denen der Architekt:innen. Ein großer Unterschied jedoch ist ihre spontane Hand beim Aufbau. Nur zu 90 % sind ihre Werke geplant, der Rest ist Reaktion auf die reale Umgebung, die sich erst beim Umsetzen ihrer Modelle vollständig erschließt.
Auf diese Weise entstehen Volumen ohne Substanz. Mal bewegen sich die linearen Objekte als Lichtskulptur von Raum zu Raum, in anderen Installationen wiederum irrt man durch ein leuchtendes Labyrinth. Trotz minimalistischer Mittel entpuppt sich eine überraschende Vielfalt: Einerseits baut Choi begehbare Körper, andererseits simple transparente Wände, die den Ort neu aufteilen. Die Bewegungen der Leuchtspur reichen vom Boden bis zur Decke, schweben frei und können abrupt in der dunklen Leere verschwinden. Linie, Fläche und Raum verschwimmen zu einer eigentümlichen Einheit – sprunghaft wechselt unser Auge zwischen den drei Dimensionen hin und her.
Zunächst ist man als Beobachter verwirrt und orientierungslos. Erst nach und nach findet das Auge die möglichen Wege und Perspektiven zwischen den fragilen Wänden. Jeder Schritt gleicht einem vorsichtigen Herantasten und eröffnet neue Blickwinkel. Viele Besucher berichten von einer meditativen Ruhe beim Erkunden. Man ist im Moment gefangen. Durch das Glühen der Fäden könnte man meinen, einen unterschwelligen Ton, eine elektrische Vibration wahrzunehmen. Auch wenn die Räume künstlich und digital wirken, ist unsere Reaktion darauf sehr natürlich: Unweigerlich fühlen wir uns von dem mystisch wirkenden Licht angezogen und versuchen, es zu verstehen.
In mehrfacher Hinsicht sind Chois Installationen eine Grenzerfahrung. Mit dem Schwarzlicht überlässt sie uns eine eigenartige Lichtquelle am Rande des Sichtbaren, dessen Frequenzen bereits an unsichtbare Röntgenstrahlen anschließen. Es liegt in der Natur der zeitgenössischen Kunst, Grenzen immer wieder aufs Neue auszuloten: Besonders ortsspezifische Arbeiten interagieren mit dem Raum auf eine Weise, sodass die Grenzen zwischen Raum und Kunstwerk verschwimmen, sich oftmals gar auflösen. Das Kino ist die wohl populärste Raumerfahrung dieser Art – ein Raum wie ein Guckkasten, geschaffen, um die Welt drumherum auszublenden. Auch bei Jeongmoon Choi fühlt man sich am Ende wie beim Verlassen des Kinosaals: Angenehm betäubt trägt man die Illusion noch ein paar Schritte mit sich, zurück in die Realität.
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