Der springende Punkt Der Punkt als erstes und kleinstes Element in Architektur und Gestaltung
Autor: Dave Großmann, Künstler und Redakteur an den Schnittstellen von Design, Kunst und Architektur
Ein ganzer Text für eine so kleine Form? Nun, es liegt in der Natur der Sache, dass wir beim Punkt etwas genauer hinschauen müssen. Schon eine geometrische Definition an diese Stelle zu setzen, würde wohl mehr Verwirrung als Klarheit mit sich bringen. Der Mathematiker Oskar Perron hat es simpel ausgedrückt: „Ein Punkt ist genau das, was der intelligente, aber harmlose, unverbildete Leser sich darunter vorstellt.“ Das reicht. Zumindest fürs Erste.
In der Gestaltung sprechen wir ganz naiv von “der kleinsten aller Formen“. Das schafft Abhilfe, aber nur kurzzeitig. Denn Superlative fordern geradezu zum Besserwissen auf und sind meist schnell entlarvt. Ein Pixel als kleinste Einheit etwa, ist bei näherer Betrachtung am Bildschirm aus drei Leuchtdioden zusammengesetzt. Etwas Ruhe kehrt in die Sache ein, wenn wir den Punkt im Verhältnis sehen. Er wird dann zum kleinsten Element, wenn wir ihn im Vergleich zur tragenden Fläche und anderen umliegenden Formen betrachten. Doch kann man neben der Größe auch die Gestalt des Punktes beschreiben? Das spielt in diesem Zusammenhang keine große Rolle mehr. In unserer Idealvorstellung ist der Punkt ein Kreis ohne Ausdehnung. In der analogen Welt jedoch, ist so ein abstraktes Ideal kaum vorzufinden. Es kommt auf die Perspektive an. Sterne am Nachthimmel sind nichts anderes, als gigantische Gasbälle. Andersrum verhält es sich mit gedruckten Punkten. Bereits unter der Lupe erkennt man, dass kein Punkt dem anderen gleicht und die Tinte an den Rändern ausfranst, freie Formen entstehen. Vereinfacht ausgedrückt: mit genügend Abstand wird jedes Objekt irgendwann zum Punkt. Unsere Wahrnehmung bestimmt, was Punkt ist und was nicht.
Akzente in der Gestaltung
Wie in der Schrift steht der Punkt auch in der Gestaltung für den Moment der Pause. Er ist statisch, schwer und zieht den Blick wie ein Sog an sich. Die opulente Betonsichel des Auditoriums von Teneriffa entwickelt zwar eine äußerst schwungvolle Bewegung, die wir stark mit einer brechenden Welle assoziieren. Dennoch mündet die gesamte Dynamik des Gebäudes in der Spitze, die wie ein Magnet auf das Auge wirkt. Einen ähnlichen Effekt kann Kunst am Bau und besonders das skulpturale Werk erzeugen, welches häufig als Akzent gesetzt wird. An der Fassade selbst finden wir in der gegenwärtigen Architektur nur selten konkrete Punkte als Gestaltungsmittel. Punktuell gesetzte Fenster erinnern eher an Festungen, nicht an zeitgemäße Bauweise. Auch Nieten in Stahlkonstruktionen erwecken nur nostalgische Gefühle statt Aufbruchsstimmung und wurden im Trend des Industriecharmes vorrübergehend wiederbelebt.
Anker in der Planung
Eine fast schon poetische Beschreibung des Punktes formulierte Kandinsky mit dem ersten “Zusammenstoßen“ von Werkzeug und Werkfläche. In der Architektur wird dieser Moment häufig mit dem ersten Spatenstich gefeiert. Doch bevor die Bauphase beginnt, werden Punkte bereits in der Planung und beim Strukturieren des Raumes gesetzt. Sie begrenzen Volumen und markieren jene Stelle im Raumwinkel, an der mehrere Flächen aufeinandertreffen. Point clouds helfen dabei, komplexe geografische Landschaften, aber auch die Topographie der Stadt visuell darzustellen. Eine Vielzahl an Fixpunkten in einem dreidimensionalen Koordinatensystem erstellen dabei detaillierte Modelle.
Das Zentrum im Raum
Im Gegensatz zur Linie kennt der Punkt keine Richtung und ruht in sich. Man könnte auch sagen, er ist das Zentrum um das Bewegung herum stattfindet. Das Innere eines Raumes wird auf diese Weise entworfen und nach statischen Elementen ausgerichtet: In der Küche dreht sich alles um den Herd, eine lange Zeit bestimmte der Heizofen das Arrangement des Wohnzimmers, heute wohl eher der Fernseher. Im Bad finden wir mit Toilette, Waschtisch und Bademöglichkeit gleich mehrere Punkte, die harmonisch zueinander stehen sollten. Darüber hinaus werden Entscheidungen hinsichtlich der Beleuchtung — zwischen punktuellen und flächigen Lichtquellen — getroffen.
Dreh- und Angelpunkte im öffentlichen Raum
Weitergedacht finden wir zentrale Punkte auch im inneren Komplex einer Gebäudestruktur. Ob Tresore, Kantinen oder Serverräume: Je nach Funktion, müssen diese Zentren verschiedene Anforderungen erfüllen. Das gleiche Prinzip setzt sich natürlich auch in größeren Dimensionen wie dem Stadtraum fort. Schon frühzeitig markierten kleine Punkte wie Brunnen, Kirchen oder Bankgebäude die wichtigsten Standorte einer Ortschaft und sollten die weitere Stadtentwicklung nachhaltig prägen. Mit der Zeit wurden diese mit wichtigen Knotenpunkten der öffentlichen Infrastruktur ergänzt: Bahnhöfe, Universitäten und Krankenhäuser zählen in Städten unter anderem zu den wesentlichen Zentren des öffentlichen Lebens. Täglich starten und enden hier massenhafte Bewegungsströme. Heute wie damals pilgern Menschen weltweit zu kulturell wichtigen Gebäuden – ganz egal ob zum Louvre, zur Kaaba in Mekka oder zum Berghain in Berlin. Aus der Sicht des Besuchers sind es bedeutende Bauten. Aus der globalen Perspektive: nichts weiter als Punkte…
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