Zwischen Skulptur und Architektur Gijs Van Vaerenbergh
Kunst oder Architektur? Das belgische Studio Gijs Van Vaerenbergh will sich nicht festlegen und entwickelt Objekte, die beides miteinander vereinen.
Ein Gastbeitrag von Dave Großmann.
Ohne Architektur auch keine Kunst. Eh und je waren die beiden Disziplinen untrennbar miteinander verbunden. Denn einerseits wurde Kunst schon immer speziell für bestimmte Gebäude geschaffen – andererseits werden Galerien, Museen und Ausstellungshäuser gebaut, um dieser einen Raum zu geben. In vielen Fällen jedoch sind wir uns einig, entstehen auch Bauwerke von so hohem künstlerischen Wert, dass sie eine Brücke zwischen beiden Welten schlagen. Doch wo genau beginnt eine Skulptur, wo hört Architektur auf?
Genau dieser Frage widmet sich das belgische Studio Gijs Van Vaerenbergh. Um eine Antwort darauf zu finden, nähern sie sich dem Problem von beiden Seiten. Sie realisieren sowohl »klassische« Architekturprojekte, als auch Ausstellungen im Kunstkontext. Am bekanntesten jedoch sind ihre ortsspezifischen Bauten, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen. Objekte, die den Zweck von Architektur gerade so erfüllen, deren Bestimmung jedoch unklar bleibt.
Zweifellos gibt es viele Architekten, die sich selbst als Künstler sehen. Und doch verfolgen beide Ausdrucksformen grundverschiedene Absichten. Während uns Architektur schützt, Orientierung und Klarheit bietet – umgibt die Kunst das Rätselhafte. Sie stiftet Verwirrung. Statt Lösungen zu versprechen, hinterlässt sie offene Fragen. Gijs Van Vaerenbergh unternimmt den gewagten Versuch, beide Ansätze zu vereinen. Leichtfertig könnte man das als experimentelle Architektur abstempeln – doch es ist viel mehr als das.
Ein gutes Beispiel ist ihre Arbeit »Colonnade« in der belgischen Stadt Brügge. Auf den ersten Blick erinnert die Installation aus Cortenstahl aufgrund der Maße an einen Pavillon. Ebenso zeichnet sich das Bild eines antiken Tempels ab. Denn im Wesentlichen besteht die Colonnade aus den gleichen Elementen: einer quadratischen Boden- und Dachplatte, gestützt von 100 Säulen. Doch statt aufrechter Pfeiler finden wir ein chaotisches Durcheinander schräger Säulen, unterschiedlicher Durchmesser. Ein Labyrinth aus Stahl, in dem man sich verirren kann, wie in einem dichten Wald. Die mysteriöse Erscheinung öffnet sich von allen Seiten und zieht uns unweigerlich in sich hinein. Im Inneren stellt sich sofort ein unbekanntes Raumgefühl ein – zwischen spielerischer Erkundung und klaustrophobischer Enge. Eine merkwürdige Erfahrung. Zwar findet man den Weg hinaus, doch die Verwunderung bleibt.
Noch einen Schritt weiter geht die Idee vom »Water Line Monument«. Dieses befindet sich entlang der Holländischen Wasserlinie – einer gut erhaltenen Verteidigungslinie, welche seit 2021 zum UNSECO Weltkulturerbe zählt. Aus diesem Anlass realisierte das Duo ein Monument aus hunderten von aufeinandergestapelten Stahlrohren. In ihren Konturen erinnert die Installation sowohl an einen Triumphbogen, als auch an eine Art Schleuse. Ein gelungener Verweis auf die Geschichte des Ortes. Denn die Wasserlinie konnte im Verteidigungsfall durch ein ausgeklügeltes Kanalsystem geflutet werden. Das wirklich Besondere jedoch, ist die kontrastreiche Fern- und Nahwirkung. Erscheint das Objekt von Weitem noch als festes Volumen, blickt man im Vorbeigehen durch die Rohre hindurch. Plötzlich löst sich die wuchtige Stahlstruktur wie ein luftiges Gitter in der Landschaft auf. Mit nur wenigen Schritten kippt die Masse in Leichtigkeit.
Dieses Spiel mit Stahl und Transparenz zieht sich durch das Portfolio von Gijs van Vaerenbergh. Es stellt nicht nur unsere Sehgewohnheiten, sondern auch den Raum per se in Frage. Wieviel braucht es, damit wir von einem soliden Bauwerk sprechen können? Auf die Spitze treiben sie diesen Gedanken in einer transparenten Kirchenminiatur. »Reading between the Lines« erweckt den Anschein einer klassischen Kirche mit Turm und Schiff. Allerdings besteht diese aus 100 gleichmäßig gestapelten Stahlplatten. Geisterhaft verschwimmt die Silhouette in der Umgebung. Nicht nur für den Effekt – sondern als andächtiger Hinweis auf die zunehmend verschwindenden Kirchen in der flämischen Region. Etwas weniger besinnlich ist der Blick aus dem Inneren heraus: Die Struktur bietet kaum Halt, sondern wirkt mit ihren scharfkantigen Platten nahezu gefährlich. Man bewegt sich vorsichtig in dieser Umgebung.
Ob nun Tempel, Kirche, Schloss oder Windmühle – in vielen Werken verpackt das Duo traditionelle Konturen in eine moderne Hülle. Althergeholte Bauformen dienen ihnen als Grundlage für schlanken Minimalismus. Das Studio baut Vertrautes, das uns gleichzeitig fremd erscheint. Denn die Gebäude sind von ihrem ursprünglichen Zweck befreit. Wie überdimensionale Modellbauten stehen sie nun im öffentlichen Raum und vereinen eine Reihe an Widersprüchen. Wo nun genau die Grenze zwischen Skulptur und Architektur verläuft – wollen Gijs Van Vaerenbergh selbst nicht definieren. Doch mit ihrer Arbeit geben sie uns beeindruckende Gelegenheiten, eine eigene Antwort auf diese Frage zu finden.
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