Shades of Grey Mächtig kompakte Skulpturen von Susanne Piotter
Susanne Piotter vermischt Brutalismus mit Science-Fiction und baut betongewordene Artefakte aus einer anderen Zeit.
Ein Gastbeitrag von Dave Großmann
Für die einen ist es Beton. Für die anderen ist es das wohl beste Material der Welt. Selten polarisierte ein Architekturstil so stark wie der Brutalismus. Und nur wenige andere Gebäude konnten einen so außerordentlichen Imagewechsel hinlegen. In den 90ern noch als abschreckende Bausünden gebrandmarkt, widmen sich seit einigen Jahren globale Fangemeinden dem Erhalt und der genauen Dokumentation brutalistischer Bauten. Kaltes Grau als Fetisch. Offensichtlich geht von den brachialen Fassaden eine merkwürdige Anziehung aus, obwohl diese so gar nicht in die heutige Welt passen wollen. Warum fasziniert das rohe Material die Welt wieder?
Auch die Künstlerin Susanne Piotter kann sich der Begeisterung für massive Betonbauten nicht entziehen. Aufgewachsen in einem kleinstädtischen Einfamilienhaus am Niederrhein übte das Urbane frühzeitig einen starken Sog auf sie aus. »Ich war schon als Kind total begeistert von Architektur, die höher ist als zwei Stockwerke.« Also zog sie los, ins Berlin der Nachwendezeit und entdeckte mit der Kamera die Architektur der ehemaligen Sowjetunion für sich. Vor allem in Osteuropa waren die Städte für sie voller architektonischer Widersprüche. Der eiserne Vorhang war gefallen und die Bühne wurde frei für radikale und schnelle Veränderungen im Stadtbild. Ebenso entwickelte sich Piotters dokumentarischer Blick während eines Bühnenbildstudiums hin zum schöpferischen Handwerk. Bald festigte sich ihre Sicht auf Architektur nicht mehr im Foto, sondern in Betonskulpturen.
Piotter wollte nicht mehr abbilden, sondern selber entwerfen – ihre Arbeiten haben keinen konkreten Bezug zu realen Objekten. Vielmehr geht es ihr um das Gefühl dem puren Material gegenüber, dem Verhältnis von Volumen und Leere. Genau das strahlen ihre Arbeiten mit einer ungewöhnlichen Selbstverständlichkeit aus. Obwohl ihre Skulpturen kompakt sind, wirken sie mächtig. Allein das grobe Material und die kantige Formensprache rufen deutliche Assoziationen mit realen Gebäuden und deren Dimensionen hervor. Vor dem inneren Auge tun sich massige Bauten auf. Trotzdem sind ihr Arbeiten keine Modelle, sondern eigenständige Körper – Codes, entnommen aus einer urbanen Formensprache, die nun eine ganz eigene Geschichte erzählen.
Steckt in der Künstlerin eigentlich eine verkappte Architektin? Tatsächlich eher nicht: »Ich würde niemals Architektin werden wollen, einfach aufgrund des engen Rahmens«. Ihre Arbeiten leben von spontanen Entscheidungen während der Herstellung. So erstellt sie nie Positive vor dem Abguss und arbeitet immer aus dem Negativ heraus. Genauso verzichtet sie bewusst auf 3D-Renderings und weigert sich, das Ergebnis penibel zu planen. Auf diese Weise entsteht viel Raum für Überraschungsmomente – der Zufall spielt eine große Rolle in ihren Arbeiten. Ihre Ideen können komplett umstürzen oder in eine ganz andere Richtung wachsen als angedacht. Kalkulierte Umwege. In dieser unbefangenen Freiheit unterscheidet sie sich wesentlich vom durchgeplanten Prozess realer Architektur. Mit ihren Skulpturen sucht sie intuitiv nach neuen Möglichkeiten, Volumen und Oberflächen wirken zu lassen: Die Objekte haben oftmals keine festgelegte Ausrichtung, können gedreht, gekippt oder unterschiedlich gehangen werden. »Bei mir im Atelier liegen zurzeit bestimmt 20 verschiedene Einzelteile, die ich gegossen habe und irgendwann miteinander kombiniert werden. Gerade hab ich noch keine Verwendung dafür, aber ihr Moment wird kommen.«
Natürlich sind nicht alle Werke von Piotter als Überraschungsarchitektur gebaut. Einen konkreten Bezug haben etwa ihre in Beton gegossenen Autobahnkreuze. Die sehr spezifischen Bauformen wie Kleeblatt, Maltheser oder Turbine bekommen in ihren Skulpturen eine neue, organische Wirkung, aber auch etwas sehr Zeichenhaftes – wie aus einer anderen Welt. Überhaupt hat ein Besuch ihrer Ausstellungen beinahe etwas museales, als sehe man Spuren aus einer anderen Ära. Vergangenheit oder Zukunft? Man kann nur rätseln, in welcher Zeit und zu welchem Zweck ihre Artefakte gebaut wurden. Tatsächlich ist dieses Zeitlose angelehnt an die Ästhetik von Science-Fiction Filmen, von der sich Piotter gerne inspirieren lässt. Ihr Auge richtet sich vor allem auf das atmosphärische Design und die fiktive Architektur, die sich in solchen Filmen oftmals zeitlich schwer einordnen lässt.
So war auch der Brutalismus im weitesten Sinne Fiktion – eine utopische Wohnform, ein gesellschaftspolitisches Experiment, welches scheitern musste. In einer Zeit in der perfektionistische Ansprüche gelten, alles hochgradig funktional, sozial und nachhaltig sein muss findet diese Bauweise keinen Platz mehr. Vermutlich entspringt die dennoch anhaltende Faszination der Gewissheit: So wird man nie wieder bauen. In der digitalen Fangemeinschaft lebt die Sehnsucht nach dem Unvollkommenen, nach der betongewordenen Sünde weiter. Und genauso auch in Susanne Piotters Skulpturen. Auf die Frage hin, ob sie neben aller Faszination auch einen kritischen Blick auf die Betonfassaden wirft: »Nein, ich find´s einfach geil.«
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